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Weiss-Pfote und Schwarz-Punkt

Sie erscheint wie eine gewöhnliche Familie, doch was sich im Untergrund abspielt, ahnt niemand.


Es ist Sonntagmorgen, in den Baumwipfeln ertönen die Gesänge der Amseln. Die Sonnenstrahlen fallen ins Wohnzimmer der Familie Ecker. Während draussen die Welt erwacht, schlafen im Hause Ecker noch alle. Doch plötzlich ertönt der Handy-Wecker der Eltern mit dem Song «Let it be» von den Beatles. Kaum drehen sich die Eltern noch einmal zur Seite, stürmen auch schon die beiden Kinder René und Marta ins Zimmer. Sie tanzen und toben herum. Sie sind ganz aufgeregt, denn heute hat Oma Lotti Geburtstag und die Überraschungsparty findet bei den Eckers statt.

Im Treppenhaus riecht es nach frisch gebrühtem Kaffee, der Vater der Familie Ecker liest seine morgendliche Zeitung und die Mutter Sara trägt noch eben eine dicke Schicht Lippenstift auf, während die Vorbereitungen für die grosse Geburtstagsparty laufen. Soeben schleichen auch die Kinder in die Küche und schon fehlt da und dort eine kleine Leckerei, welche für den Geburtstag vorbereitet wurde. Nur noch wenige Stunden, dann kommen Oma Lotti und die Gäste.

Schon klingelt es an der Tür und die ersten Gäste erscheinen. «Bitte alle einmal den Gang entlang und dann hinten wieder raus in den Garten», ruft Sara in die Menge. Oma Lotti staunt nicht schlecht, als sie den reichlich gefüllten Tisch mit allerlei Leckereien erblickt. Nachdem die Mäuler und Bäuche gestopft sind, steht nun das grosse Versteckspiel an. Das ist eine lange Familientradition, welche an jedem Geburtstag durchgeführt wird. Die Gäste begeben sich in den nahegelegenen Wald. Die Kinder Marta und René rennen zusammen los. Doch plötzlich hört Marta ein Knacken und dann einen unterdrückten Schrei. Marta dreht sich um. Er ist weg, ihr kleiner Bruder René ist weg, wie vom Erdboden verschluckt. Ihr Blick erhascht in der Ferne eine dunkle Gestalt, welche sich entfernt. Dann hört sie ein Knacken hinter sich. Zitternd und ganz langsam dreht sie sich um, sie erstarrt. Nun geht alles ganz schnell, sie wird gepackt, hochgehoben und weggetragen, in welche Richtung, das weiss sie nicht. Auf einer Lichtung im Wald fährt ein schwarzes Auto mit getönten Scheiben heran. Der Kofferraum geht auf. Marta wird hineingepfercht. Ein stechender Gestank steigt ihr in die Nase. Es müffelt nach abgestandenem Fisch. Nach einer gefühlten Ewigkeit kommt der Wagen zum Stillstand. Marta hört Stimmen, dann geht der Kofferraum auch schon wieder auf. Der Entführer trägt eine Sturmmaske, am Unterarm erkennt Marta jedoch ein Rosen-Tattoo. Martas Gedanken beginnen zu Kreisen. Sie hat dieses Tattoo schon einmal gesehen, nur leider weiss sie nicht mehr wo. Kaum hat Marta ihre Gedanken fertig gespinnt, herrscht wieder Dunkelheit. Ihr wird ein Sack über ihren Kopf gezogen. Sie wird hochgehoben. Vor Angst fällt sie in Ohnmacht. Als sie langsam wieder zu sich kommt, sitzt sie auf einem Boden. Sie friert und zittert am ganzen Körper. Marta ist nicht gefesselt. Sie reibt sich die Augen und blickt sich um. Es gibt nicht viel zu sehen. Sie befindet sich in einem winzigen Raum mit feuchten, kargen Wänden. Angst steigt in ihr hoch. Das Schlimmste an der ganzen Situation ist nicht einmal ihre eigene Lage, sondern im Ungewissen über den Zustand ihres Bruders zu sein. Viele Gedanken schwirren Marta durch den Kopf. Wo ist René? Wie geht es ihm? Ist er verletzt? Lebt er überhaupt noch? Marta versucht, stark zu sein. Doch die Tränen strömen aus ihr heraus.

Das Versteckspiel neigt sich dem Ende zu, erst jetzt fällt Sara auf, dass ihre Kinder spurlos verschwunden sind. Was anfänglich als Scherz angesehen wurde, wird nun sehr ernst. Eine grosse Suchaktion nach den beiden Verschwundenen startet. Die Eckers machen sich auf den Weg zurück zum Haus, jetzt muss gehandelt werden. Der Vater rennt in die Küche, schiebt das Wandregal zur Seite und steigt die Treppe hinunter. Hinunter, in das Reich der Wölfe. Was sich da vor ihm ausbreitet ist gigantisch. Ein Riesengehege für die beiden Hauswölfe Weiss-Pfote und Schwarz-Punkt. Aus dem Mund des Vaters ertönt ein Pfeifen und die Wölfe spitzen ihre Ohren. Sie erhalten zwei, drei Anweisungen des Vaters und schon nehmen sie die Fährte auf. Die Suche kann beginnen. Diese zwei zahmen Wölfe sind alles andere als gewöhnliche Haustiere. Die Familie Ecker hat vor vier Jahren die beiden Wolfbabys im Wald gefunden. Sie waren ausgesetzt und misshandelt worden. Die Wölfe sind nun ein fester Bestandteil der Familie.

Unterdessen schlägt Marta in einem dunklen Keller die Zeit tot und versucht, sich mit ihren Gedanken nicht verrückt zu machen.

Die Wölfe suchen ein verlassenes Grundstück nahe dem Wald ab. Dorthin hat sie die Fährte gelockt. Der Besitzer Harald ist ein alter, mürrischer, ehemaliger Jäger, welcher sich die Wocheneden damit vertreibt, im Wald verbotenerweise Wild zu schiessen. Er hat schon lange einen Groll auf die Familie Ecker, da die Kinder Marta und René früher oft auf dem Grundstück spielten und ihm das überhaupt nicht passte.

In seinen Jugendjahren war Harald ein Kindskopf und für jeden Unfug zu haben. Nach dem Tod seiner Tochter und der Scheidung mit seiner Frau, wurde er ein anderer Mensch. Einer, der alles, was ihm in die Quere kommt, aus dem Weg räumt. Als Andenken an seine Tochter tätowierte er sich deren Lieblingsblume, die Rose.

Nun liegt er da auf dem Boden, eingeschüchtert und ängstlich, gebodigt von den beiden Wölfen. Die Eltern der beiden Verschwundenen tauchen wenige Sekunden später am Fundort auf. Haralds Finger deuten auf die Holztüre am Gartenhaus. Der Vater rammt die Türe mit einem herumliegenden Eisenstab, sofort rennt ihm sein Sohn in die Arme. Sara blickt Harald mit finsterem Blick in die Augen: «Du griesgrämiger Stinkstiefel zeigst uns nun sofort, wo du unsere Tochter versteckt hältst. Um noch mehr Druck auf den Gebodigten auszuüben, zeigen die Wölfe fletschend ihre Zähne, ohne dem Übeltäter nur ein einziges Haar zu krümmen. Doch gerade in diesem Moment springt die Verandatüre von Haralds Haus auf und dahinter hervor schlüpft Marta mit hochrotem Kopf. Sie ruft: «Papa, Papa, ich habe den Türöffner-Trick mit der Haarnadel angewendet!»

Die Wölfe sind die Helden dieser Geschichte. Auch in Zukunft bleiben sie die treuen Begleiter der Familie, um Bösewichte fernzuhalten.

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