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Die Geburt eines Pullovers

Die Entstehung eines Pullovers ist mühsam und für viele eine Qual…


Mein Name ist Marena und ich erzähle euch heute meine Geschichte. Auf den Feldern sieht man mich beim Pflücken der Baumwolle leiden. Zu Hungerlöhnen ackere ich auf den Feldern, um dann gerade so meine Familie ernähren zu können. Am Abend bin ich völlig ausgepumpt und vom Hunger geplagt, ausgezerrt. Todmüde falle ich ins Bett und versinke in einen tiefen Schlaf. Ich träume davon, die Augen nie wieder öffnen zu müssen und in Frieden zu ruhen. Doch auch am nächsten Morgen, in aller Frühe, stehe ich wieder auf, um die monotone Arbeit weiterzuführen. Bei stechender Hitze quäle ich mich erneut durch den langen Tag. Es mangelt an Nahrung und sauberem Trinkwasser. Ich erdulde die unmenschlichen Strapazen für mein Kinder. Ihre Zukunft soll anders sein. Ich hoffe, dass sie einst ein besseres und menschenwürdigeres Leben führen werden. Dieser Hoffnungsschimmer schenkt mir die Kraft. Meine Arbeit ist mühsam und qualvoll. Ich rackere mich ab, damit sich die Bevölkerung der Industriestädte nach Belieben neue Kleidung kaufen kann.

Mein Tag startet um 4.00 Uhr morgens. Ich schrubbe die Flecken aus den Kleidern meiner Kinder, wasche mein Gesicht und bereite ein nahrhaftes Frühstück für meine Kinder vor. Mein Mann ist vor drei Jahren wegen eines Herzinfarkts ums Leben gekommen. Seit diesem Tag bin ich allein für meine Kinder verantwortlich. Wenn ich daran zurückdenke, läuft es mir kalt den Rücken runter.

Es war ein düsterer Morgen. Der Himmel war mit Wolken überzogen und es braute sich langsam ein Gewitter zusammen. Hinter dem Gebirge staute sich eine Mischung aus Wolken, Nebel und Regen an. Diese graue Brühe wartete nur darauf, über uns niederzubrechen. Die Wetterlage hinderte meinen Mann und mich jedoch nicht daran, wie jeden Morgen, um 4.00 Uhr aufzustehen, um gemeinsam die Vorbereitungen für den Tag zu erledigen. Später würden wir uns auf den Weg zu unserer Feldarbeit im Tal begeben. Mein Mann weckte noch die Kinder, gab ihnen einen Kuss auf die Wange und verabschiedete sich mit einer langen Umarmung von ihnen. Die letzten Worte, welche sie von ihm hörten, waren: «Ich liebe euch und werde euch für immer in meinem Herzen tragen», so als hätte er gespürt, dass sich in nur wenigen Stunden unser Familienleben drastisch verändern würde. Ahnungslos, wie ich war, machten wir uns gemeinsam auf den Weg. Nach einer knappen Stunde Marsch drehte ich mich um, denn ich vermisste den warmen Atem meines Mannes in meinem Nacken. Ich blickte auf den steilen Waldweg hinter mir zurück, doch er blieb verschwunden. Panik stieg in mir hoch. Ich hatte keine Chance ihn zu hören, denn seit unserem Abmarsch goss der Regen wie aus Kübeln, es donnerte und blitzte, als wollte uns der Himmel ein Zeichen schicken. Es schien als weinte das Gebirge. Ahnte die Natur voraus, was mit meinem Mann passieren würde? Ich kämpfte mich wieder den steilen Waldweg hinauf. Ich hatte Mühe, auf dem nassen Boden Halt zu finden. Die durchnässte Erde rutschte mir immer wieder unter den Füssen weg. Doch dann, im Dickicht des Waldes erblickte ich ihn. Er lag mit ausgestreckten Armen und Beinen flach auf dem Boden. Sein Blick war starr in meine Richtung gerichtet. Adrenalin schoss in mir hoch, ich bündelte all meine verbliebenen Kräfte und kroch das letzte Stück zu ihm hoch. Er kam langsam wieder zu sich. Für einen kurzen Moment war er aus der Welt der Lebenden getreten. Nun richtete er sich auf und animierte mich ohne grosse Worte zum Weitermarsch, damit wir nicht zu spät zur Arbeit kämen. Einen Lohnabzug, als Bestrafung für die Verspätung, konnten wir uns im Moment sowieso nicht leisten. Die verbleibende Wegstrecke bis zur Ankunft im Tal verbrachten wir schweigend.

Ich traute mich nicht, ihn auf den Vorfall anzusprechen. Ich dachte, er würde sich sonst in seiner Ehre gekränkt fühlen. So wie es in unserer Kultur üblich ist, war er der Starke, der seine Familie beschützt. Unsere Beziehung war nicht sehr innig, von Liebe keine Spur. Es war eine arrangierte Ehe. Sie erfüllte ihren Zweck. Eine Trennung war jedoch auch keine Option, denn dann wären wir von der Familie verstossen worden. Ich kann von grossem Glück sprechen, dass ich in meiner Ehe nie Gewalt erfahren musste. Freundinnen von mir können davon ein Lied singen. Den Alltag meisterten wir gemeinsam, doch Zeit für uns, um sich etwas anzunähern, blieb keine. Ich staunte jedoch immer wieder, welche Liebe er unseren gemeinsamen Kindern gegenüber ausstrahlte. Er arbeitete und kämpfte ums Überleben aller Familienmitglieder. Seine oberste Priorität war, unseren Kindern eine bessere Zukunft mit vielen Perspektiven zu ermöglichen.

Mit der Ankunft auf dem Feld begann sogleich unsere Arbeit. Am Mittag erstrahlte der Himmel wieder in vollem Glanz, doch diese heitere Stimmung war schon bald von einem düsteren Schimmer getrübt. Ich wurde ruckartig aus meinem Tagtraum gerissen. Hinter mir ertönte lautes Geschrei. Die Arbeiterinnen und Arbeiter rannten hektisch umher. Verwundert über diese plötzliche Unruhe näherte ich mich langsam in Richtung der Menschenansammlung. Da lag er. Dann ging alles ganz schnell. Mir wurde schwarz vor den Augen. Als ich erwachte, hatte bereits die Abenddämmerung eingesetzt, neugierige und besorgte Augen blickten mich an. Mit klarem Verstand, jedoch noch etwas benommen, rief ich hektisch: «Wo ist er?» Nun wurde es um mich herum ganz still und die Gesichter richten sich zum Himmel empor. Aus meinem Auge löste sich eine dicke Träne. Ich fing sie mit meiner Zunge auf. Einen leicht salzigen Geschmack konnte ich erkennen.

Nach dem Tod meines Mannes begann eine schwere Zeit für meine Kinder und mich. Auch wenn wir Eltern einander nicht besonders nahestanden, war er der Vater meiner Kinder und somit eine wichtige Person auch in meinem Leben. Oft lernt man die Dinge erst zu schätzen, wenn man diese plötzlich entbehren muss.

Von da an wecke ich nun unsere Kinder mit einem liebevollen Kuss aus ihrem Schlaf. Danach absolviere ich einen zweistündigen Marsch, um aus dem Gebirge ins Tal zu meiner Arbeitsstelle zu gelangen. Ich kremple meine Ärmel hoch, binde mein Kopftuch um, so kann ich mich vor der stechenden Hitze schützen und die störenden Haare aus dem Gesicht halten. Um meine Hüfte binde ich einen Korb, dann lege ich los. Ich arbeite mich von Strauch zu Strauch vor und drehe den Wattebausch aus der Kapsel (Boll). Der Schweiss tropft mir von der Stirn, meine Handballen sind voller Schwielen. Der Rücken schmerzt und der Magen brummt vor Hunger. Ich arbeite nun schon sieben Stunden ununterbrochen. Noch eine Stunde, dann darf ich kurz verschnaufen und mich etwas stärken. Momentan brauche ich jedoch jeden Batzen, denn ich führe nun den Willen meines Mannes weiter, arbeite nun für zwei, um unseren Kindern eine Zukunft zu ermöglichen, von der ich nur träumen kann. Da bleibt für mich kein Geld, um mir im nahegelegenen Dorf zusätzlich etwas zu Essen zu kaufen. Kaum gestärkt geht die Knochenarbeit weiter. Nach 12 Stunden Arbeit und zweistündigem Rückmarsch ist mein Tag noch nicht zu Ende. Die Kinder brauchen ein Abendessen. Vor wenigen Monaten erreichte mich eine weitere Hiobsbotschaft, meine Mutter hat Krebs in fortgeschrittenem Stadium und keine Aussicht auf Heilung. Uns fehlen die finanziellen Möglichkeiten. Auch sie braucht meine Zuwendung und Pflege, um ihre verbleibende Lebenszeit ertragbar zu machen. Todmüde und mit schmerzendem Körper ziehe ich mich nach getaner Arbeit langsam zurück. Tausend Gedanken schweifen mir durch den Kopf und halten mich vom Schlaf ab. Am Himmel erstrahlt für einen kurzen Moment ein Licht, eine Sternschnuppe, ich wünsche mir dabei von Herzen, dass sich die ganze Mühe und harte Arbeit lohnt, um meinen Kindern diese Zukunft zu ermöglichen, die mir nie geebnet wurde.

Dann schliesse ich meine Augen, bevor sich alles wieder von vorne abspielt...

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