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Pratteln steht Kopf!

Baumaschinen rollen heran, der Bahnhof wird erweitert. Riesige Grünflächen werden verbaut und der Dorfkern auf Vordermann gebracht. Das alles für drei Tage saufen, feiern und kämpfen. Vom 26. bis zum 28. August 2022 findet in Pratteln das Eidgenössische Schwing- und Älplerfest statt. Die Schweizer Nationalsportart «Schwingen» steht dabei im Zentrum.


Ausgangs Pratteln, in Richtung Frenkendorf/Füllinsdorf, entsteht auf dem Gelände für das Fest ein provisorisches Dorf. Festzelte werden aufgebaut. Die grosse Arena mit Platz für mehrere tausend Zuschauer und Zuschauerinnen nimmt immer mehr Gestalt an. Verpflegungsstationen werden errichtet. Diverse Firmen treten als Sponsoren auf. 295 Männer freuen sich darauf, einander zu bekämpfen und schliesslich den Schwingerkönig zu küren. Aus traditionellen Gründen wird das Eidgenössische Schwing- und Älplerfest seit Generationen mit mehr oder weniger gleichbleibendem Ablauf zelebriert. Für viele Schweizer und Schweizerinnen bedeuten der 26., 27. und 28. August 2022 «die drey scheenschte Dääg» des Jahres. Aus der ganzen Schweiz kommen Scharen angereist, um ausschliesslich Männern beim Schwingen zuzuschauen. Das Fest wird mit einem Umzug durch Prattelns Strassen eröffnet. In meinen Augen ist ein solcher Anlass unterdessen veraltet. Offenbar, so scheint es mir in diesem Fall, darf die Tradition patriarchalisch/autoritär sein. Wenn man dies kritisiert, wird man von der Anhängerschaft schräg angeschaut.


Während dem Festumzug ertönt in den Strassen Prattelns unter anderem der Klang der Jugendmusik Pratteln. Die musizierenden Mädchen müssen dabei traditionellerweise Zöpfe tragen. Verschiedene Schweizer Bräuche und Vereine sind am Umzug zu bestaunen. Alte Männer reiten hoch zu Ross. Es sind Angehörige der Schweizer Kavallerie Schwadron, welche mit erhobenem Haupte auf dem Rücken der Pferde durch Prattelns Strassen traben – für mich ein albernes Bild. Zudem werden Ziegen und Hunde durch die Strassen getrieben, um von den Schaulustigen bestaunt zu werden.


Zwar haben die Frauen Zugang zum Fest, dennoch ist ihnen die Teilnahme am Schwing-Turnier verwehrt. Ich finde die Vorstellung veraltet, dass nur Männer daran teilnehmen dürfen. Warum ist den Frauen die Teilnahme an diesem Wettkampf verwehrt? Früher waren die Männer die Oberhäupter im Hause. Sie waren diejenigen, die die Familien ernährten und sie beschützten. Ich vermute, dass daher dieses Bild des starken Schwingers kommt und deshalb auf die Frauen-Teilnahme verzichtet wird. Hinzu kommt, dass die Frauen, nebst der Teilnahme am Schwing-Turnier, auch in der Vergabe der Ticktes benachteiligt sind. Tickets erhielten nur ausgewählte Gäste. Als einfacher Bürger oder einfache Bürgerin an Tickets zu gelangen, ohne Kontakte spielen zu lassen, war fast unmöglich. Warum ist es nur ausgewählten Kreisen möglich, das Schwingen live mitzuerleben, wenn es doch ein Eidgenössisches Volks-Fest werden sollte? Diese Frage bleibt für mich ungeklärt.


Für die Bewohner und Bewohnerinnen Prattelns ist es an diesen drei Tagen schwierig wegzukommen, gewisse Strassen sind gesperrt. Wenn man sich darum kümmert, wie man an diesen Tagen dem Trubel entkommen kann, um zur Arbeit zu gehen, lautet (vom Hörensagen) die Antwort darauf von offizieller Seite: «Seien Sie doch nicht so kompliziert, es ist ja schliesslich ein Fest, es gibt doch Schlimmeres!» Man wird also fast dazu «gezwungen», auch ein Teil davon zu sein. Von vielen Seiten ist zu hören, dass dieses Fest doch gar nicht an einen Ort wie Pratteln passt. Ich verstehe diese Überlegungen. Solange dieser Anlass so traditionsverbunden durchgeführt wird, macht es für mich mehr Sinn, diesen in der Innerschweiz zu organisieren, also zurück zum Ursprung. Warum errichtet man dieses Fest in einem Dorf wie Pratteln, welches wenig mit dem Schwingen am Hut hat? Zudem frage ich mich: Wer denkt bei der ganzen Sache eigentlich an das Wohl der Tiere? Bis zum «grossen» Auftritt stehen die Kühe eingepfercht in ihren Boxen. Zum Sieg wird dem Schwingerkönig der Siegermuni übergeben. Ein Tier als Trophäe, schon etwas bizarr! Ob man sich dabei um das Tierwohl schert, bezweifle ich. Bestimmt ist der ganze Trubel und Lärm ein Stressfaktor für die Tiere. Ich muss nicht viel von Tieren verstehen, um dies zu bemerken.


Jede Altersgruppe ist an diesem Fest anzutreffen, vorwiegend jedoch die ältere Generation. Ich wage zu behaupten: Würde ein Konzert für Jugendliche auf dieser grossen Fläche und mit diesem Ausmass an Lärm stattfinden, wäre gerade die ältere Generation die, welche dagegen etwas auszusetzen hat. Abgesehen davon, ist dieser Anlass überhaupt nicht umweltbewusst- und schonend. Grünflächen werden geteert, Böden umgegraben, Leitungen verlegt, Gebäude errichtet und Rohstoffe verbraucht. Bereits vorhandene Einrichtungen, wie zum Beispiel das nahe gelegene St. Jakob Stadion in Basel bietet scheinbar nicht die benötigte Infrastruktur für die Durchführung eines solchen Festes. Ich bin jedoch der Überzeugung, dass dies mit Erweiterungen des Vorhandenen möglich gewesen wäre. Der Bauer, der in Pratteln dafür sein Land zur Verfügung gestellt hat, hat finanziell sicher profitiert. Für ihn hat das ganze (finanziell) also einen grossen Nutzen, ansonsten hat dieses Fest für die Allgemeinheit Kosten verursacht. Vor dem Hintergrund von heutigen verbreiteten Prinzipien und Werten frage ich mich, ob ein solcher Anlass aufgrund genannter Themen (Naturschutz, Genderfragen, Kosten/Nutzen-Bilanz,…) überhaupt noch stattfinden soll?


Ich möchte betonen, dass ich Traditionen natürlich nicht generell ablehne. Ich finde es jedoch wichtig, dass man nicht in der Tradition gefangen ist. Man muss sich an die Veränderungen, neuen Gegebenheiten und sich wandelnden Werte in unserer Gesellschaft in gutem Masse anpassen. Man darf sich also nicht auf den Standpunkt stellen, nichts an der Tradition zu hinterfragen oder zu bemängeln. Die heutigen Werte in Bezug auf den Tierschutz, das erhöhte Umweltbewusstsein und die Gleichstellung der Geschlechter haben sich in unserer Gesellschaft etabliert und dürfen an einem solchen Anlass nicht einfach ignoriert werden. Die Werte, welche an diesem Fest vertreten werden, sind eher konservative. Ich frage mich, ist es, in einer Welt voller Kriege, richtig, sich freiwillig und zum Spass zu «bekämpfen»?


Man wird sich in Zukunft in gewissen Kreisen vermehrt überlegen, ob ein solcher Anlass mit der Entwicklung unserer Gesinnung noch in dieser Form durchgeführt werden soll. Ist ein derartiges Fest zeitgemäss? Ich bin nicht gegen Tradition. Wir müssen jedoch nicht an der Vergangenheit festhalten, wenn es Entwicklungen gibt, die uns weiterbringen und Lebenssituationen verbessern. Wir können die Traditionen mit neuen Werten verbinden und müssen nicht stur am Alten festhalten. Tiere sollen friedlich auf den Wiesen weiden und nicht eingesperrt in einem Stall darauf warten, als Trophäe übergeben zu werden. In einer Welt, in der immer noch Kriege geführt werden, die mit Umweltproblemen durch den Klimawandel zu kämpfen hat und in der es z.T. endlich zur Geleichberechtigung zwischen Mann und Frau kommt, erscheint mir ein solches Fest fast ein wenig exotisch. Zugegeben, ich war auch am Eröffnungs-Umzug, habe aber festgestellt, dass ich sowas in Zukunft nicht vermisse. Ich freu mich darauf, wenn wir in Pratteln wieder zum Alltag über gehen und das urbane multikulturelle Dorfleben zurückkommt.

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